Schule: der neue Anstoß
Ein Interview mit Anna Frigerio, Direktorin des Instituts Sacro Cuore in Mailand, über Fernunterricht, Schule im Lockdown und die „Wette“ der Erziehung: „Wesentlich ist, was einen Weg zeigt“.[Das Interview fand im September 2020 statt, Anm. der Red.]
Man versucht wieder die Rückkehr in die Klasse, zu dem von allen verlangten Präsenzunterricht. In diesen ereignisreichen und schwierigen Monaten haben sich Aufrufe aus Politik und aus Kultur, Verordnungen, Polemiken, logistische Pläne und didaktische Anstrengungen vermehrt. Und jeder hätte es unterschrieben: man soll zurück. Aber wohin? Heißt „zurück“ etwa rückwärts? Für Anna Frigerio geht es um keine Rückkehr zur Vergangenheit, nicht einmal so einer nahen Vergangenheit, wie jene vor der Covid-Zeit. „Was wir erlebt haben, ist kein bloßer Zwischenfall. Es erfordert etwas Anderes“.
Seit sieben Jahren ist sie bei der „Sacro Cuore“ Stiftung in Mailand Direktorin der beiden Liceo Classico und Scientifico [Altsprachen- und Realgymnasium, Anm. der Red.] und didaktische Koordinatorin aller Schulstufen (vom Kindergarten zur Oberstufe, über 1200 Schüler und 100 Lehrer). Lange war sie selbst Lehrerin in öffentlichen Schulen, wo sie ihre Schüler mit dem Gedanken des Ktema es aei des Thukydides, dem „Besitz für immer“, gerne provozierte. Unverblümt sagte sie ihnen: „Alles, was ihr gerade lernt, werdet ihr vergessen. Die Göttliche Komödie, die Perserkriege, den Satz des Pythagoras... Was wird also für immer bleiben?“. Heute hat diese Frage irgendwie ein neues Gewicht, während die Schule auf Wiedereröffnung wartet und Anna Frigerio die ununterbrochene Arbeit der Reflexion und des Austausches betrachtet, die gemeinsam mit allen Lehrern geführt wurde. „Es geht nicht darum, nach dem Sturm eine Art Synthese zu machen. Das, was wir gelernt haben, öffnet für etwas Anderes: Es erleuchtet das Gewöhnliche und regt zu Neuem an“. Eher als eine Art Bilanz, ein neuer Anstoß.
Das neue Schuljahr beginnt. Wir können es als eine Art Reifeprüfung für die Schule selbst nach der noch nie dagewesenen Herausforderung der Pandemie betrachten. Manche sehen dabei eine Ziellinie, andere einen Ausgangspunkt. Zurück in die Vergangenheit oder ab in die Zukunft?
Wir gehen vorwärts, allerdings sollen wir auf zwei Risiken achten: Einerseits, dass man die Erfahrung dieser Monate für eine bloße Reaktion auf die Notlage hält, nach der man in die „echte“ Schule zurückkehrt; andererseits, eine übertriebene Betonung des Fernunterrichts. Schule ist immer Präsenz, egal, in welchem Modus. Der springende Punkt ist also: Was spielt in der Präsenz mit? Was ist wirklich Beziehung zu den Schülern? Etwa sie in meiner Nähe zu haben? Und was heißt es, dass der andere mir etwas bedeutet? Klar, man geht diese Fragen durch die Mittel an, die man gerade zur Verfügung hat: Ein Monitor kann die Feinheit einer Beziehung nicht wiedergeben, allerdings ist auch der Präsenzunterricht keine Garantie dafür, dass der andere „abgefangen“ wird. Alles hängt von der persönlichen Haltung ab. Also der festzuhaltende Wert ist: Was heißt es, in einer Beziehung mit der ganzen Tiefe des Ichs dabei zu sein?
Sie sprechen von einem „festzuhaltenden“ Wert. Alle sagen, wir sollen das Geschehene „beherzigen“. Wie geht das?
Erstens soll man verstehen, dass alles, was wir im Lockdown entdeckt haben, nicht mit einer bestimmten Form, einem „Modus“ gleichzusetzen ist. Es betrifft vielmehr Grundfragen. Dies zu beherzigen, das Wertvolle festzuhalten braucht eine offene Haltung.
Inwiefern?
Diese Zeit stellt viele Fragen, lässt festgefahrene Schemata wackeln. Ich gebe ihnen ein Beispiel: Es gibt Schüler, die in der Klasse „in Deckung“ waren, während sie sich beim Fernunterricht mehr „exponierten“. Ist also wirklich die Klassengruppe an und für sich die beste Lage fürs Lernen? Es besteht kein Zweifel daran, dass man gemeinsam lernen kann; aber wir sahen auch, dass die one-to-one Beziehung unentbehrlich ist.
Das wird auch wie ein Mantra wiederholt: Wir sind zum Wesentlichen zurückgekehrt. Die ganze italienische Schule hatte die Gelegenheit, über das Wesentliche nachzudenken. Aber wovon reden wir eigentlich?
Wesentlich ist für mich das, was einen Weg zeigen kann. Was uns verstehen lässt, wie man weiterkommen kann. Nicht jede Neuigkeit an sich, sondern das Neue, das man ins Auge fassen kann. Wie ich sagte: Wesentlich ist das Thema des „Daseins“. Es geht dabei nicht um einen Willensakt - dass ich im Klassenraum bin und sage „Jetzt bin ich da“. Es ist eine Arbeit an sich selbst in der kontinuierlichen Beziehung zum Anderen, d. h. zu den Schülern und den Kollegen.
Können Sie ein Beispiel geben?
In der Pandemie haben wir in die Jugendlichen sehr viel investiert. Und nicht, weil wir dachten „Jetzt wollen wir Vertrauen schenken“; wir wurden gezwungen, es zu schenken. Um überhaupt weiterzumachen, mussten wir ihnen einen Teil der Arbeit individuell erledigen lassen. Technisch gesehen ist es eine Art angelsächsisches Modell, in dem der Jugendliche manche Inhalte vorbereitet und sie auf einer Plattform dem Professor anbietet, welcher diese Materialien als Ausgangspunkt für die Stunde verwendet. So wird die Natur des Unterrichts als „Dialog“ vertieft. Aber vor allem Vertrauen zu schenken, indem man Werkzeuge und eine Richtlinie gibt, ermöglichte einen Schritt der Selbstständigkeit, in dem wunderschöne Beziehungen entstanden. Das überrascht mich sehr.
Warum?
Die plötzliche Schulschließung ließ das große Thema der Freiheit auftauchen. In diesen Monaten war die Geschichte jedes Jugendlichen und jedes Kindes unterschiedlich und der Unterschied hing davon ab, inwieweit er zum Gebrauch seiner Freiheit ermutigt und dabei unterstützt wurde. Ich sah manche Schüler aufblühen und andere sich zurückziehen. Zahlenmäßig sind die ersten mehr, aber die Wunde bleibt. Das Überraschende ist, dass die Jugendlichen, die die Herausforderung der Selbstständigkeit ernster nahmen, auch jene sind, die die Beziehung zu den Lehrern intensiver suchten. Das ist für mich eines der wertvollsten Fakten. Und wie es notwendig war, den Schülern Vertrauen zu schenken, so war es auch mit den Inhalten.
Den Inhalten Vertrauen schenken...?
Ja, ich meine die Wahl von Themen, Autoren und Texte, welche die Kraft haben, die Person, das Subjekt entfalten zu lassen. Das Subjekt wird nicht durch die Schule „erschaffen“: Es ist da und entfaltet sich. Das heißt, man soll den bildenden Wert der Inhalte ins Zentrum rücken: Welche treiben die Sinnsuche der Jugendichen an? Welche können eine Art Sinnspur innerhalb der Fächer deutlich machen? Es geht nicht darum, eine Liste der Dinge zu schreiben, die man unbedingt wissen muss. Es bedeutet für einen Lehrenden, eine zusätzliche, außergewöhnliche Arbeit zu leisten und kühn in seinen Entscheidungen zu sein.
Wir sind also wieder beim „Besitz für immer“ des Thukydides.
Sie werden Dante vergessen, aber alles, was sie durch die Beziehungen „kosteten“, die Dante erlebte, wird bleiben: eine bestimmte Art und Weise, die Welt anzuschauen, sich vom Schmerz des Anderen durchdringen zu lassen, die Tatsache akzeptieren zu können, dass die Vernunft irgendwann stehen bleibt und sich in ein „Jenseits“ hinein trauen muss... Dasselbe ist mit den naturwissenschaftlichen Fächern: Welche Themen bauen das mathematische Denken auf? Es gibt Übungen, die vielleicht aus fachlicher Sicht banal sind, aber eine geordnete Vorangehensweise vermitteln, also ein kritisches Denken. Man sagt den Schülern: Ich gebe dir eine Arbeit, leite dich, vertraue darauf, dass die Inhalte deine Sensibilität und deine Intelligenz berühren können; und ich bin davon überzeugt, dass du mir viel mehr zurückgeben kannst als die bloße Wiederholung dessen, was ich sagte. Die Frage des Vertrauens hat so eine unendliche Tiefe inne...
Was leitet euch in eurer Arbeit?
Der Fernunterricht war ein gewaltiger Stresstest: Er verlangte eine unermeßliche Anstrengung und stellte auch einen unglaublichen Reichtum dar. Er ließ nämlich das auftauchen, was schon vorhanden war: Wir wurden uns einer Arbeitsfähigkeit, einer Unternehmungslust, einer Kreativität bewusst, die aus einer Geschichte entspringen - einer immer mit kritischem Geist erlebten Geschichte.
Meinen Sie die Tradition Ihrer Schule?
Die „Sacro Cuore“ entsteht aus der erziehrischen Leidenschaft don Giussanis und die hier erbrachte Arbeit war schon immer eine – auch problematische – Vertiefung des Ursprungs, um diesen „existenziell“ zu begreifen.
Was ist dieser Ursprung heute?
Die kontinuierliche Reflexion über die Natur der Vernunft: Was Vernunft sein soll und was es heißt, zu einem solchen Gebrauch von ihr zu erziehen, dass das ganze Menschsein miteinbezogen wird, dass man der Wirklichkeit Fragen stellen und nicht vom Zweifel, sondern von einer Hypothese der Gewissheit, von einer aufrichtigen Offenheit gegenüber den Dingen getrieben werden kann. Ich finde, dass dieses Bestehen auf die Vernunft – nicht als aseptischer Mechanismus, sondern als Einsatz der ganzen Person – der Ursprung dieser Schule ist. Aber das Schönste ist, dass all dies innerhalb einer „sachbezogenen“ Beziehung deutlich wird, indem man einfach „Schule macht“.
Wie wird nun die Zentralität des Subjekts zur Vision, und somit auch zur Struktur?
Wenn du plötzlich alles verändern musst – wie es halt passierte – ist es nicht so, dass du in vier Tagen ein Modell schaffen kannst. Aber du musst strukturieren: entscheiden, riskieren, du darfst nicht einfach weiter improvisieren. Wir haben zum Beispiel entschieden, unseren Stundenplan nicht einfach online zu übertragen. So mussten wir an einer komplexen Unterrichtsplanung unheimlich viel arbeiten und weitere Werkzeuge zur Verfügung stellen: Videoaufnahmen, Einzel- und Gruppentermine, Korrekturen der Hausübungen, Revisionen der Tests... Und wir haben den Schülern den Wochenplan im Voraus mitgeteilt, mit den Abgaben, die sie machen mussten. Es war eine wahnsinnige Arbeit, eine großartige Synergie mit den Lehrern. Auch dieser ist ein Punkt, der einen Weg zeigt.
Das gemeinsame Tun?
Der Lockdown hat die Mitverantwortung aufgewertet. Ich wiederhole, wir haben jetzt das Potential von Dingen erkannt, die wir jeden Tag sahen, aber nie richtig wahrnahmen. Zum Beispiel das Mitmachen der Schüler im Unterricht, oder die Klassenkonferenz: Es ist wesentlich, einen gemeinsamen Blick auf die Jugendlichen zu haben, und dass das Kulturangebot zusammen bestimmt wird, dass die Fächer miteinander sprechen - nicht nur jene, die demselben Bereich angehören. Wir blicken auf das Organisieren immer mit einem gewissen Vorbehalt wegen der Furcht, dass sich alles versteifen kann. Aber eine Struktur kann auch die Breite einer Vision ausdrücken und zwar, wenn man sich sozusagen verbündet mit dem, was aus dem Leben hervorgeht, aus der Geschichte - aus den Fakten, die wir gesehen haben – und flexibel bleibt. Es geht darum, den Realismus beizubehalten, der uns in den letzten Monaten führte.
Derselbe Realismus, den man von der Politik verlangt... Die Hoffnung vor allem für Privatschulen ist, dass die Krise ideologische Schemata bricht und das reale Bedürfnis nach einer Erziehungsfreiheit auftauchen lässt. Was erwarten Sie von der Politik?
Ich habe lange in der staatlichen Schule unterrichtet und für mich ist die Frage immer noch dieselbe: Jede Schule ist öffentlich. Das Problem ist: Sie muss funktionieren und es muss Leute geben, die fähig sind, Fragen zu stellen - über den Wert der Erziehung und über die Bedeutung dessen, was man vermitteln will.
Aber es gibt Schulen, für die finanzielle Ressourcen eine Frage von Leben und Tod sind.
Ich verstehe die Notwendigkeit eines politischen Kampfes, denn diese Situation ist eine Bedrohung für die Erziehungsfreiheit, aber der Weg ist, Gesprächspartner bezüglich des Werts der Schule zu finden. Sonst bleiben wir bei Denkmustern stehen, die uns blockieren. Ich glaube, das echte politische Thema ist ein anderes: Durch die Schule erzieht man zur Idee einer „Bestimmungsgemeinschaft“. Ich mag diesen jetzt modischen Ausdruck, denn die Bestimmung ist die persönlichste Dimension, die es gibt, und trotzdem sind wir dazu berufen, zusammen zu sein... Die Politik soll nicht dieses Streben nach einer gemeinsamen Bestimmung enttäuschen, das die Schule hervorbringt. Die große Verantwortung der Politik lässt sich gewiss nicht auf Ressourcen reduzieren. Jedoch muss sie dieses Streben aufnehmen und konkret unterstützen.
In diesen Monaten war die Schule im öffentlichen Diskurs überaus präsent und wurde als Priorität für die Gesellschaft wieder betont. Was hat sie mit der Zukunft des Landes zu tun?
Durch die Schule kann man offene Menschen großziehen – oder nicht. Bei der Matura habe ich auf jeden einzelnen nach der mündlichen Prüfung gewartet und war überrascht, junge Leute zu sehen, die es kaum erwarten können, in die Welt zu gehen. Ich glaube, dass der entscheidende Beitrag für das Land ist, Menschen zu erziehen, die gerne etwas lernen, sich fürs Neue öffnen wollen, dazu fähig sind, eine Vision zu entwickeln, zu riskieren... Menschen, die keine Angst vor dem Neuen in einer sich ständig verändernden Welt haben. In einem Ausdruck würde ich sagen: nicht-ideologische Jugendliche. Da steht die Zukunft des Landes auf dem Spiel. Es steht alles auf dem Spiel.
Sie haben gesagt, dass die Herausforderung darin besteht, nicht vom Zweifel, sondern von einer Hypothese der Gewissheit getrieben zu werden. Welche denn?
Dem eigenen Menschsein zu vertrauen. Das rührendste Ergebnis einer guten Erziehung ist, dass sich ein Heranwachsender mit dem eigenen ganzen Menschsein konfrontieren kann. Unter ihnen gibt es das große Risiko, fremdbestimmt sein zu wollen: „Sag mir, was du willst, und ich tue das“. Was ist das Gegenmittel? Ganz man selbst zu sein. Und das Menschsein ist eine Arbeit: Sie geschieht kontinuierlich innen im Menschen. Die Schule muss dies wachsen lassen und dabei die „Momente“ eines Schülers respektieren, sonst wird sie zur Ideologie. Es gibt so viele Sachen in den geschichtlichen Ereignissen, die wir gerade erleben... Aber sie alle führen zur Frage um das Menschsein zurück. Vielleicht waren wir wie abgeflacht in der Wahrnehmung dessen, was wir sind.