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Zeuge des ewigen Lebens

Eine Krankenschwester darf unerwartet einen todkranken Jungen und seine Mutter begleiten und "in einer hoffnungslosen Lage die Hoffnung verkünden": ein Zeugnis aus Wien.
Ludmila Suchankova

Ich bin Kinderkrankenschwester und arbeite seit 20 Jahren in einer Station für Stammzellentransplantation. Zu uns kommen vor allem krebskranke Kinder, die schon viel an Therapie und Zeit im Spital durchgemacht haben. Die Transplantation ist ihre letzte Chance: entweder ist sie erfolgreich oder die Krankheit siegt.

Vor ein paar Tagen kam ein 16-jähriger Bursche zu uns, Andy, der eine aggressive Form eines Lymphoms hatte. Er sollte bei uns bestrahlt werden und danach eine Transplantation haben. Andy und seine Mama waren zwar besorgt aber voll Hoffnung, dass alles gut gehen würde. Vor der ersten Bestrahlung wurde ein Kontroll-CT gemacht, bei dem festgestellt wurde, dass der Tumor innerhalb einer Woche sich verdoppelt hatte. In einer solchen Situation ist eine Transplantation nicht mehr möglich und damit seine letzte Chance geheilt zu werden. Die Palliativpflege wurde für ihn geplant und danach die endgültige Rückkehr nach Hause, zum Sterben – ein Schlag ins Gesicht, ein Todesurteil.
Andy und seine Mama wurden von den Ärzten aufgeklärt. Es gab Tränen, Verzweiflung und sie wollten nicht glauben, dass das das Ende wäre. Andy blieb noch drei Tage bei uns auf der Station, um mit lokaler Bestrahlung das Wachstums des Lymphoms zu verlangsamen.

Wie reagiert man da als Krankenschwester? Trotz meiner 20-jährigen Erfahrung auf der Station passiert so was eher selten. Wenn die Kinder ein Todesurteil bekommen, sind Sie in den meisten Fällen entweder in einer häuslichen Pflege oder auf den Onkostationen. In diesem Fall spürte ich daher, dass ich gerufen war, in einer hoffnungslosen Lage die Hoffnung zu verkünden. Ähnlich wie Davide Prosperi (Leiter von Comunione e Liberazione, Anm. der Red.) in seinem letzten Schreiben meinte: Ich wurde genau hier gerufen, die Verantwortung zu übernehmen, Zeuge des ewigen Lebens zu sein.

Bei der Dienstübergabe habe ich gebeten, Andy betreuen zu dürfen. Aufgrund meiner Entschlossenheit waren alle erleichtert. Im Zimmer war eine trübe Atmosphäre, man hätte die Luft „schneiden“ können. Ich bat den Heiligen Geist, die richtigen Worte sagen zu können. In der Früh bei den Laudes hatte ich nämlich den Psalm 51 gebeten: Herr, öffne mir die Lippen / und mein Mund wird deinen Ruhm verkünden. Das war kein Zufall.
Andys Mama versuchte, normal zu wirken. Sie versuchte, ihren Sohn zu schützen und sprach den Tod nicht an, aber er stand in ihren Augen, zusammen mit der ganzen Tiefe der Verzweiflung! Als Andy in der Dusche war, brach sie in Tränen aus. „Warum er?“ Ich konnte sie nur vorsichtig an den Händen halten (mehr hätte sie nicht zugelassen) und mit ihr mitweinen. Sie würde mit ihm sterben, meinte sie. Sie konnte es nicht aushalten. Ich habe vorsichtig widersprochen. Sie wird es aushalten. Sie musste. Sie musste für ihre anderen Kinder weiter leben. Der Tod ist nicht die letzte Stufe! Ich konnte ihr nur aus meiner eigenen Erfahrung sagen, dass alles einen Sinn hat, auch wenn wir es überhaupt nicht verstehen, und die Liebe immer siegt! Über Gott konnte ich mit ihr nicht reden, das spürte ich, wohl aber mit Andy.

Als seine Mama aus dem Zimmer ging, fragte ich ihn ganz direkt: „Hast du Angst?“ Er bejahte und begann zu weinen. Ich fing an, von mir zu erzählen. Als meine Mutter starb, war ich gerade erwachsen geworden. Hätte ich den Glauben nicht gehabt, hätte ich nicht gewusst, dass ich meine Mama wiedersehen würde. Ich wusste, es endet nicht alles mit dem Tod , anders wäre ich verrückt geworden. Ich nahm ihm in die Arme und sagte: „Wenn das Leben mit dem Tod zu Ende wäre, wäre es absurd. Das Leben wäre sinnlos.“ Ich versprach ihm, dass er dort, wo er nach seinem Tod hingehen wird, glücklich und nicht allein sein wird. Ich sagte ihm, dass Gott ihn liebt und dass ich für ihn beten würde. Er sagte nur: „Danke.“ Es gab noch Tränen, aber er war sichtlich erleichtert. Von da an hat sich etwas verändert, die Stimmung, die Atmosphäre im Zimmer war anders. Trotz der Traurigkeit waren wir fröhlich. Wir scherzten miteinander, und wir erzählten einander was er noch zu tun hatte. Wir schrieben eine To-Do–Liste für zu Hause. Ich empfahl ihm, seine jüngere Teenagerschwester noch besser kennenzulernen, damit sie möglichst viele schönen Erinnerungen an ihn haben würde.

Als Andy und seine Mama nach drei Tagen nach Hause gingen, gab ich Andy mein Telefonnummer (das tue ich sonst nie) und bat ihn, mich immer anzurufen, wenn die Verzweiflung kommt und er Fragen über Gott und das Leben nach dem Tod hat. Ich versprach, weiter für ihn zu beten. Ich und seine Mama umarmten uns innig. Obwohl ich mit ihr nicht über Gott reden konnte, spürte sie die Menschlichkeit, mit der wir uns näher waren. Ohne die Erfahrung, die ich in der Bewegung von Comunione e Liberazione gemacht habe und immer wieder mache, wäre es mir nicht möglich gewesen, solche Menschlichkeit zu schenken – die, die aus der Gegenwart Christi hervorgeht.