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Eine neue Perspektive

Ein Urlaub mit drei Obdachlosen und die Überraschung des Nikodemus: Ein neuer Blick auf die Dinge ist möglich.
Giovanni Micco

Es gibt zwei kleine Treppen, die ziemlich steil sind. Das Holz des Geländers ist an mehreren Stellen abgenutzt - an den Stellen, an denen sich im Laufe der Jahre viele Hände festgehalten haben. Die einzelnen Stufen sind durch die vielen Schritte abgenutzt und haben Rillen. Eine Treppe führt nach oben, die andere nach unten. Oben angekommen befindet man sich hinter oder besser gesagt im Hauptaltar der Kirche, zwischen den hölzernen Heiligenfiguren, die von oben herab schauen. Hier klettern die Pilger in langer Tradition hinauf, um ihre Gebete in das Ohr der Madonna zu „flüstern“.
Wer weiß, was Jacek, Istvan und Andrea ihr zugeflüstert haben. Ja, auch sie, drei der kranken Obdachlosen, die jeden Mittwoch zum Mittagessen in unser Haus kommen, dort hinaufgeklettert, um der Muttergottes ins Ohr zu flüstern.

Bei einem dieser Mittagessen kamen wir auf die Idee, ein paar Tage Urlaub mit ihnen zu machen. Wir fanden eine wunderschöne Holzvilla an einem See und sagten: „Los geht's!“ Um die drei Obdachlosen versammelten sich Familien mit kleinen Kindern, Kollegen aus der Schule und Freunde, die ich schon lange nicht mehr gesehen hatte - Gläubige und Atheisten, Gesunde und Kranke. Unter ihnen war auch Marie, eine junge Mutter, die das Thema dieser Tage vorschlug.

Es entsprang ihrer Neugierde auf die biblische Gestalt des Nikodemus, dem sie in Michelangelos Pietà Fiorentina begegnet war. In dieser Marmorskulptur, die die Abnahme Christi vom Kreuz darstellt, identifiziert sich der Bildhauer, selbst ein alter Mann geworden, mit Nikodemus und verleiht diesem nicht nur seine körperlichen Merkmale und sogar die Züge seines Gesichts, sondern übernimmt vielleicht auch die berühmte Frage, die Nikodemus Jesus stellte – des nachts, um nicht mit ihm ertappt zu werden: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist?

Alt sind vielleicht die Gewohnheiten, die sich nicht ändern, wie meine Sorgen zu Beginn dieser Tage: „Hoffentlich betrinken sich die Obdachlosen nicht, hoffentlich laufen sie nicht weg, hoffentlich benehmen sie sich, nehmen ihre Medizin...“. Dabei haben gerade sie haben diese Tage neu gemacht. Sie waren dankbar für die Schönheit des Ortes, glücklich, am Tisch sitzen zu können und ein paar Worte mit anderen Menschen wechseln zu dürfen, ein bisschen von ihrer Geschichte zu erzählen. Sie waren offen und beteiligt an allem, was wir taten, bis hin zu der kurzen Pilgerfahrt zu dem Heiligtum in Annaberg. Jaceks Herz sollte ein paar Tagen später operiert werden, Istvan an den Beinen und Andrea am Magen, dennoch wollten sie mit uns zu Fuß langsam bis zur Kirche gehen und dann die Stufen hinaufsteigen, um etwas der Muttergottes zu sagen.

Als ich selbst dort oben ankam, in der Absicht, der Gottesmutter ein Anliegen anzuvertrauen, stellte ich überrascht fest, dass man von dort oben die Dinge und Menschen im Kirchenschiff auf eine neue Art und Weise betrachten kann. Diese Neuheit verwandelt den Wunsch zu bitten in einen Wunsch zu danken: Die Nähe zu den Heiligen gibt uns eine neue Perspektive auf die Dinge und Menschen, die uns im Alltag umgeben.