Die Hintertür

Die Begegnung mit Obdachlosen führt unerwartet zur Wahrnehmung Gottes, der uns erreichen will. Ein Zeugnis aus Wien.
Giovanni Micco

Verlasse ich das Kloster durch die Hintertür, um das Rad zu holen, den Müll wegzuwerfen oder zum Auto zu gehen, begegne ich oft rauchenden Menschen mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Sie spazieren herum, reden miteinander, verbringen den Tag auf dem Parkplatz auf Bänken, die sie von irgendwo mitgeschleppt haben. Sie sind unsere Nachbarn und werden von den Sozialarbeitern der Caritas “unsere Klienten” genannt. Die Klienten sind kranke Menschen ohne Zuhause, ohne Arbeit und ohne Sozialversicherung, die für einige Zeit hier betreut wohnen dürfen.

Henry kommt aus der Slowakei. Er hält mich an, um mich um eine Zigarette zu bitten – auf Italienisch. Ich frage ihn, wo er meine Sprache gelernt hat. “In Triest, Pater” antwortet er. “Ich war in Italien sieben Jahre im Gefängnis, sie haben mich sehr gut behandelt!”. Er erzählt nostalgisch von seiner Vergangenheit und beschwert sich über seine schlechte Gesundheit, die Schmerzen an den Beinen und eine Operation, die er vielleicht machen wird. Es ist also schwierig, die Hintertür zu benützen, ohne diesen Menschen und ihren Bedürfnissen zu begegnen.

Zuerst dachte ich, man muss etwas für sie tun. Gutes tun beruhigt das Gewissen. Man schenkt ihnen ab und zu Zigaretten, man besorgt ein Paar Schuhe, wechselt mit ihnen ein paar Wörter und fängt an, mit ihnen Bekannschaft zu schließen. Thomas kommt in Rollstuhl an: Er hält eine Dose Bier zwischen den Beinen, die nur knielang sind, während beide Protesen mit den weißen Turnschuhen bei der Bank liegen. “Was ist mit deinen Beinen passiert?” frage ich. “Ich habe sie unter einem Zug vergessen, hatte zu viel getrunken”. Er fragt, ob wir ihm einen alten Laptop schenken können, um Emails zu schreiben. Er ist Pole wie seine Freunde, eine kleine Gruppe, die Marco führt. Er bewegt sich mithilfe eines Rollators, spricht auch gut Italienisch, hat in einem Restaurant in der Nähe von Rom gearbeitet und gibt an, viele Rezepte zu kennen. Er bittet um ein Handy. “Wen willst du denn anrufen?”. “Nein, ich verkaufe Handys, um Vodka zu kaufen”. Ihr Humor überrascht mich, diese Ehrlichkeit, die trotz ihrer dramatischen Situation immer noch da ist.

Oft sind sie durch Ärzte begleitet, die ihnen freiwillig medizinische Grundversorgung anbieten. Rosa kommt aus dem Balkan, sie würde Physiotherapie brauchen, das ist aber zu teuer. So versuchen wir, eine Veranstaltung zu organisieren, um Geld für sie alle zu sammeln. Bei den Vorbereitungen des Benefitkonzerts sagt Marie, die Künstlerin: “Ich will nicht nur Geld für sie sammeln, ich will vor allem für sie spielen und sie zum Konzert einladen!”. Da wird mir bewusst, dass diese Menschen genau dieselben Bedürfnisse haben wie ich, dass die Musik nicht nur da ist, um Geld zu sammeln, sondern um uns zu bewegen und zu bereichern. Ich hätte auch einer von ihnen sein können und würde mich auch freuen, zum Konzert eingeladen zu werden.

Langsam werden aus Bekannschaften Freundschaften. Seit einem Jahr kommen einige von diesen Nachbarn mittwochs regelmäßig zum Besuch. Wir kochen und essen gemeinsam, versuchen, uns in allen möglichen Sprachen zu verständigen, und während ich das Essen austeile und guten Appetit wünsche, ruft Marta laut: “Halt!” und erinnert uns mit Zeichen an das Tischgebet, das wir vergessen hatten. Es ist rührend, die Ernsthaftigkeit dieser Menschen zu sehen, wie sie um den Tisch aufstehen, die Mütze runternehmen, die Hände falten und sich in aller Einfachkeit dem Herrn anvertrauen.

Langsam, indem wir das Leben teilen, zeigt sich eine neue Möglichkeit, sie zu betrachten, und zwar durch die Worte, die Jesus spricht: “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”. Nehme ich diese Menschen als einen Teil von mir wahr, vielleicht den Teil, den ich am liebsten verdrängen würde, dann ist jede Fremdheit aufgehoben, und ich fühle mich durch ihre Nähe gesegnet: Sie ist die Nähe des Herrn, der oft in mein Leben durch die Hintertür eintreten will.

Dieser Artikel ist bereits in der Zeitschrift "Fraternità e Missione", Jänner 2021, auf Italienisch erschienen.