Die große Chance dieser Tage

Die Krise zwingt uns dazu, vielen Dingen in die Augen zu schauen, an denen wir sonst vorübergehen. Wir geben uns die unterschiedlichsten Antworten, suchen verschiedenste Lösungen. Welche davon erfüllen unser Herz?
Paola Franchi

In diesen merkwürdigen Tagen ist es leicht, sich vom mainstream mitreißen zu lassen. Die Emotionalität ist überall hoch und führt zu allerlei Überreaktionen: von den wildesten Ausplünderungen der Supermärkte zu den ich-pfeife-drauf-Aktionen, vom angstgeladenen Mitgefühl für das Leiden anderer Länder zur Verharmlosung der Sache durch Witze und Liedchen. Oft begnügen wir uns damit, zwischen dem einen und dem anderen Gefühl zu schwanken und in der Situation irgendwie zu überleben. Ja, oft wünschen wir uns nichts mehr als praktische Tipps, um „diese schlimme Zeit“ so schmerzlos wie möglich zu überstehen, und bitten auch Gott um nichts mehr als ein bisschen Hilfe dabei.
Trotzdem... reicht es dem Herzen? Hat uns nicht gerade der Weg des Glaubens dazu erzogen, jeder Situation mit der ganzen Weite und Tiefe unserer Sehnsucht entgegen zu gehen? Wenn wir es wagen, die Fragen, die diese Tage aufwerfen, klar zum Ausdruck zu bringen, entdecken wir in ihnen eine ungeheuerliche Provokation.
Wir sind gezwungen, zum Beispiel, unserer eigenen Zerbrechlichkeit in die Augen zu schauen: Warum sind wir überhaupt so erschreckt? Warum kommen wir spontan zu apokalyptischen Gedanken, oder sind so bereit, eine Situation als unerträglich zu empfinden, die für viele eigentlich nur äußerst unbequem ist? Können wir keine Form des Leidens aushalten, geschweige denn den Tod?
Noch mehr: Wir sind gezwungen, unseren eigenen Mangel an Liebe wahrzunehmen. Wir sind viel zu schnell bereit, den anderen als Feind zu sehen, ihm im Supermarkt die letzte Packung Nudeln vor der Nase wegzuziehen, oder wütend zu werden, wenn er uns zufällig am Gehsteig zu nahe kommt. Wir empören uns darüber, uns selbst einschränken zu müssen, damit es anderen besser geht. Wir können nicht einmal die Menschen ertragen, die uns am nächsten sind, Kinder, Gefährte, Eltern: Wir verzeihen es ihnen nicht, dass sie durch ihre tausend kleinen Eigenheiten unseren Alltag belasten.
Und wir entdecken plötzlich die Leere in uns, die es so schwierig macht, Einsamkeit und Stille zu akzeptieren. Denn wir suchen und finden normalerweise unseren Sinn in Aktivitäten, Beziehungen, Hobbys; diese geben uns Struktur, Identität, Ziele. Wenn sie plötzlich verschwinden, oder sich in ihrer Form stark ändern, sind wir völlig desorientiert. Was soll jetzt die Zeit füllen, den Tagen Geschmack geben? Wofür leben wir eigentlich?
Wenn wir uns dafür entscheiden, diese Entdeckungen nicht zu verdrängen, wird unsere Beziehung zu Gott sofort viel intensiver, ehrlicher. Schon darin besteht die große Chance dieser Tage. Reduzieren wir Gott auf eine mehr oder weniger wichtige „Zutat“ unter anderen (zum Beispiel Quelle moralischer Prinzipien, Trostspender im Gebet, mysteriöser Lenker der Sache etc.), verpassen wir die Möglichkeit, ihm in dieser Zeit zu begegnen. Wir haben aber so oft erfahren: Bringen wir unsere ganze Armut vor ihn hin, suchen wir aufrichtig nach ihm in den konkreten gegenwärtigen Umständen, dann erkennen wir bald die Zeichen seiner Begleitung. Es ist ja noch Fastenzeit, die „Zeit der Gnade“. Lassen wir uns von ihm überraschen.